Über Hi 2019

Hi2019 steht für ein Langzeitprojekt im Hildesheimer Stadtraum, das sich auf künstlerische wie interventionistische Weise mit einem umstrittenen Abrissgelände der Stadt auseinandersetzt.

 

 

 

 

 

Ausgangspunkt war die künstlerische Übernahme des Areals zwischen dem Helios-Klinikum und der Geschäftszentrale der Gastro & Soul GmbH. Monatelang wurde die eingezäunte Gartenkolonie als Open-Air-Atelier genutzt und zum Ausstellungsgelände umfunktioniert. Seit die Gartenhäuser wie auch alle Spuren der künstlerischen Interventionen verschwunden sind, richtet sich der Arbeitsfokus auf das im Jahr 2019 angelegte Projektarchiv.

Das Kürzel Hi2019 verweist einerseits auf die zeitliche und örtliche Verankerung des Site-specific-Projekts. Zugleich positioniert es sich als Alternative zur offiziellen Initiative Hi2025, mit der sich die Stadt Hildesheim um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ beworben hat. 

Hi2019 versteht sich als autonom agierende Solo-Initiative. Sie handelt ausschließlich im eigenen Auftrag zum 0-Euro-Tarif. Gleichwohl richten sich die aus der künstlerischen Praxis hervorgehenden Aktionen an ein Publikum.

Das kann ein Zufallspublikum sein ⇒ Von Venedig lernen .

Oder die anonyme Stadtgesellschaft ⇒ Signale aus der Sperrzone.

Oder eine klar definierte Zielgruppe wie etwa die Arbeiter der Recyclingfirma ⇒ arbeiter_in_bewegung.

 

 

 

 

 

Hi2019 : Hi2025

ICH : WIR

Will eine Region an dem renommierten Wettbewerb „Kulturhauptstadt Europas“ teilnehmen, muss sie mobilisieren, Mehrheiten gewinnen, Netzwerke bilden, Strategien entwickeln, Gelder akquirieren. Alle Bemühungen zielen auf breite Unterstützung und Konsens ab. Diese Leitlinie bestimmt auch die visuelle Kommunikation.

Um auf den laufenden Bewerbungsprozess aufmerksam zu machen, initiierte das Projektteam von Hi2025 mehrere Plakatkampagnen. Auf einem der Plakate war zu lesen: WIR ALLE SIND DAFÜR.

KEIN WIR OHNE ICH. KEIN DISKURS OHNE EINSPRUCH. Diese Allgemeinplätze hat sich Hi2019 einverleibt und in die Tat umgesetzt. Die Solo-Initiative hat sich dort breit gemacht, wo scheinbar alles seinen geregelten Gang geht: Die Stadt hat Eigenbedarf angemeldet. Altes verschwindet, Neues entsteht. Zum Wohle der Bevölkerung. Reine Routine.

Verlassene Häuser. Ein brachliegendes Territorium. Eine überschaubare Enklave am Rande der Stadt. Ein Niemandsland. Was nicht alle interessiert, hat die Autorin dieses Textes sehr interessiert. So sehr, dass sie sich dort Zutritt verschafft hat, wo gemeinhin gilt: BETRETEN VERBOTEN!

Wo aber eine Welt am Verschwinden ist, braucht es Dokumente und Zeugen. Motiv Nr. 2: Ganz sicher gibt es hier etwas zu entdecken. Ein Blick durch den Zaun hindurch genügte als Appetitanreger. Die Forschernatur witterte ein unmoralisches Angebot. Ein Hauch von Tabu und Abenteuer begleitete fortan ihr eigenverantwortliches Handeln, das notwendig wurde, um eingespielte Routinen und unhinterfragte Verabredungen wirksam zu unterbrechen.

Als Erstes wechselte die Person ihren vordefinierten Status von UNBEFUGT auf  BERECHTIGT. Ohne diesen Akt der Selbstermächtigung war die Agenda nicht zu verwirklichen. Diese orientierte sich an wenigen Prinzipien.

Subkultur statt Konsenskultur

Raus aus der Komfortzone

Mehr Bewegung an der frischen Luft

Experiment first

KULTUR : NATUR

 

Das eingezäunte Gelände mit den leer stehenden Gartenhäusern lag direkt an der viel befahrenen Senator-Braun-Allee zwischen dem Helios-Klinikum und der Geschäftszentrale der Gastro & Soul GmbH.

Wer hier als Passant oder Passantin unterwegs war, konnte mitverfolgen, wie erst die Sträucher und Bäume entfernt wurden, um Vögel vom Nisten abzuhalten, wie der Rasen zur wilden Wiese wuchs, während aus den Häusern Türen und Fenster herausgehebelt wurden.

Lange Zeit verharrten die Häuser in diesem Zustand. In der Zeitung las man von „Lauben-Gerippen“ und „Ruinen“. Dabei strahlte die Bausubstanz der meisten Gebäude keineswegs einen desolaten Zustand aus. Die Menschen, die hier gebaut, gewirtschaftet und sich erholt hatten, haben bis zuletzt renoviert und verschönert. Als seien sie von der Nachricht, ihr Grundstück aufgeben zu müssen, überrascht worden.

Eine Recherche bestätigte die Vermutung. Am 25.11.2017 schrieb die Hildesheimer Allgemeine Zeitung: „Zwei Tage, nachdem sie beim Landeswettbewerb ‚Gärten im Städtebau’ die Bronzemedaille gewannen, haben die Gartenfreunde Ortsschlump vom schon länger geplanten Aus für ihre Anlage erfahren.“ Der Vereinsvorsitzende erzählt, er sei seit 36 Jahren hier und habe jeden Stein 20-mal umgedreht. Er kritisiert, dass die Stadt und der Bezirksverein ihnen gegenüber nicht mit offenen Karten gespielt hätten. Der Journalist kommentiert, man habe sich „menschlich völlig verzettelt“.

 

Stadt : Land

 

Zur gleichen Zeit, da der Abriss der angestammten und prämierten Gartenkolonie zugunsten neuer Gewerbeflächen mit urbanem Charakter vorangetrieben wurde, tauchte im Stadtbild ein neues Plakat auf. Mit einer Zuckerrübe als zentralem Motiv symbolisierte es den Schulterschluss zwischen Stadt und Land. Schließlich war es die Gesamtregion Hildesheim, die sich um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ bewarb. Hi2025 prägte dafür den eingängigen Slogan „A European Province of Culture“.

SITE : SPECIFIC   

 

 TEMPORÄR : OPEN AIR

Hi2019 steht vor allem für die künstlerische Übernahme des Areals. Diese erschöpfte sich nicht in einer einmaligen, symbolischen Aktion. Die Landnahme erfolgte vielmehr konkret und dauerte mehrere Monate an. In dieser Zeit wurde das etwa 56.000 qm große Territorium zum Arbeits- und Ausstellungsraum umfunktioniert. Auf unbestimmte Zeit, denn die Voraussetzungen, unter denen gearbeitet wurde, waren und blieben ungewiss. Wann die Abrissfirma eintreffen würde, war genauso wenig abzusehen wie die Zeitspanne und Reihenfolge, in der die Häuser und Hütten verschwinden würden. Folglich blieb immer offen, ob die meist von Tag zu Tag geplanten Ideen tatsächlich umsetzbar waren. Die Lageeinschätzung gehörte ebenso wie das Passieren der Grenze zur täglichen Routine. 

 

Blick : Klick

 

Februar 2019. Auf einem Sonntagsspaziergang entdeckte ich das eingezäunte Gelände. Die Einzigartigkeit der Häuser stach sofort ins Auge. Jedes Einzelne von ihnen hatte ein Porträt verdient, sei es die windschiefe, halb zerzauste Hütte, das Mini-Eigenheim aus roten Ziegeln oder der stattliche Holzpalast.

 

 

Alle waren sie jetzt den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt. Auch meinen. Ich machte ein Foto. Dann noch eins und noch eins. Es war der 17. Februar 2019. Die Landnahme hatte begonnen. Was sich aus dieser Zufallsbegegnung entwickelte, vollzog sich im wechselseitigen Modus von Beobachten & Eingreifen, von Agieren & Reagieren, von Dokumentieren & Inszenieren. Die Kamera war stets dabei. Sie war das Mittel der Wahl. Aber nicht das einzige.

 

 

Original : Kopie

 

Über den gesamten Projektzeitraum hinweg erfolgte das Sichern von Originalgegenständen. Die entstehende Sammlung wurde nach und nach auf organische und vergängliche Dinge wie Pflanzen und Erdbrocken ausgeweitet. Im Gegenzug zu diesen Entnahmen wurden ortsfremde Objekte, aber auch ortsübliches Supermarkt-Gemüse importiert und in den Materialfundus aufgenommen.

Der Austausch zwischen den Kulturen machte auch vor Symbolen und Schriftzeichen nicht Halt. Hier wurde kopiert und eingefügt, was sich anderswo im öffentlichen Raum exponierte.

Sender : Empfänger

 

Das letzte Originalfoto stammt vom 9. November 2019. Am 13. November 2020 endete die vorläufig letzte öffentliche Aktion im Hildesheimer Stadtraum. Parallel dazu startete die Website. Seither dient sie nicht nur als Scharnier, mit dem verschiedenste Elemente verkoppelt werden. Vielmehr lässt sich mit ihr der Anspruch verstetigen, das Projekt weit(er)hin sichtbar zu halten. Es noch mehr zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen.

Die Arbeit am Archiv dauert an. Noch sind längst nicht alle Perspektiven auf das Material zu Wort gekommen und zur Anschauung gebracht. Noch sind zentrale Fragen offen.

Ist es Hi2019 gelungen, die von der Stadt intendierte und realisierte Sicht auf das Areal eine Zeitlang außer Kraft zu setzen? Konnte das kommunale Eigentum erfolgreich mit alternativen Gebrauchsweisen besetzt werden? Wie kann die Stadt-Perspektive nachhaltig unterlaufen werden? Wie gelingt wiederholtes Erinnern an das, was aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden bzw. gar nicht erst zu ihr vorgedrungen ist? Zur Klärung dieser und anderer Fragen wollen die kommenden Ausstellungen beitragen. Sofern sie zustande kommen, spielt sich das Erinnerungsgeschehen auch wieder im physischen Raum ab.